Heute vor 77 Jahren befreiten Rotarmisten der ersten ukrainischen Front unter dem jüdischen Kommandanten Anatoli Schapiro das Konzentrationslager Auschwitz in der heute polnischen Stadt Ośwęicim (Oschwejsim). Heute steht der Name Auschwitz synonym für den industriellen Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden. Das Eingedenken an die Opfer verpflichtet zu dem kategorischen Imperativ, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei, dass nichts Ähnliches geschehe.“ Dieser Imperativ setzt voraus, die historischen Umstände als die Bedingung der Möglichkeit des Geschehenen zu verstehen und ihre Überwindung anzustreben. Es geht hier und heute nicht um den Versuch, das Leid der Opfer nachzuvollziehen oder sich gar mit ihnen zu identifizieren. Es geht darum, die Verhältnisse, die dieses Leid ermöglichten, im Eingedenken der Opfer zu denunzieren. Namentlich sind und waren diese Verhältnisse: Kapital, Staat und explizit der deutsche Staat.
Wer behauptet, das Grauen der Shoah habe sich gegen den Zeitgeist und gegen den Lauf des aufgeklärten Weltgeschehens gerichtet, liegt falsch. Es war die bis zur totalen Verwaltung aufgeklärte Welt, die die Shoah erst möglich machte. Die aufklärerische Rationalisierung realisierte nicht nur den industriellen Fortschritt, ohne den die Mordfabriken des Nationalsozialismus nicht denkbar wären. Sie schuf auch die Grundlage einer Kategorisierung der Welt und der sie bevölkernden Menschen, die ihren barbarischen Höhepunkt in den zu Nummern degradierten Insass:innen der deutschen Lager fand. Dem sich als Revolte gegen die Moderne äußernden Nationalsozialismus lag dabei insbesondere das Ressentiment gegen die kapitalistische Moderne in Gestalt des Antisemitismus zugrunde. Die antisemitische Weltanschauung entspringt aus dem Kapitalverhältnis und bestimmt die Jüdinnen und Juden zum absoluten Objekt. Gegenüber der offen zu Tage tretenden Unvernunft, der Unterteilung in Herrschende und Beherrschte wird der Antisemitismus zum Kitt, weil er scheinbar die Einheit der Gesellschaft von Staat und Kapital garantiert. Jüdinnen und Juden wird die Verantwortung für das Elend in der Gesellschaft angelastet. Antisemitismus zeigt sich als Weltanschauung.
Zwar ist Antisemitismus Teil der allgegenwärtigen Totalität des Kapitals, doch es war die historisch besondere deutsche Konstellation, in der es zum industriellen Massenmord kam. Warum ist der Tod also ein Meister aus Deutschland? Was unterscheidet die Nation der Täter:innen von den Alliierten, was die völkischen von den westlichen Staaten? Während sich die westlichen Staaten auf das Aufbegehren der Bevölkerung gegen die Feudalherrschaft berufen, beruft sich der deutsche Nationalmythos auf das Aufbegehren für die Feudalherrschaft und gegen die napoleonische Fremdherrschaft. Dieses Aufbegehren wurde als Grund für die sogenannten „Befreiungskriege“ im 19. Jahrhundert betrachtet. Als Befreiung wird nicht etwa die Befreiung des Individuums vom Zwang wahrgenommen, sondern die Befreiung des Volkes von der Fremdherrschaft. In diesem Mythos wird das Individuum dem Volkskörper geopfert, anstatt dass sich die Staatsbevölkerung durch das individuelle Aufbegehren konstituiert. Dadurch werden die Mittel zum Zweck: Die Nation ist nicht länger Mittel zur politischen Herrschaft und Antisemitismus nicht länger Mittel zur nationalen Stabilisierung. Stattdessen werden beide zum eigentlichen Ziel ihrer selbst.
Die Last des historisch singulären Verbrechens der Deutschen – sprich: die Shoah – ist heute vom Rechtsnachfolger des NS-Regimes längst umgedeutet worden und wird mit Verweis auf die besondere historische Verantwortung und die weltweit unerreichte Aufarbeitung und Erinnerungskultur allen Ernstes zur Demonstration einer moralischen Überlegenheit instrumentalisiert. Das post-nazistische Deutschland beansprucht nicht trotz, sondern wegen Auschwitz erneut eine Rolle in der Weltpolitik und jede Israelsolidarität, die sich nicht als radikale Ablehnung des Staates von Auschwitz artikuliert, trägt ihren Teil zu dieser Rolle bei. Das deutsche Gedenken ist ein Selbstzweck, dem niemals Taten folgten. Auch wenn das Ticket und der Jargon andere Absichten vermuten lassen, bleibt das Streben nach einer Welt ohne Antisemitismus Selbstbetrug oder Manipulation, wenn es einen Kompromiss mit dem Staat eingeht oder ihn als Mittel zur Durchsetzung vorsieht.
Das geläuterte und wiedergutgewordene Deutschland und seine außenpolitische Selbstwahrnehmung als Export- und Erinnerungsweltmeister wird dabei idealtypisch verkörpert von seinem ehemaligen Außenminister, der nach eigenem Bekunden wegen Auschwitz in die Politik ging, um dann als Außenminister genau jenes iranische Regime zu hofieren und tatkräftig zu unterstützen, das keinen Hehl aus seinem Bedürfnis der atomaren Zerstörung Israels macht und offen die Vernichtung der 9 Millionen Einwohner:innen des jüdischen Staates propagiert. Doch über derlei Ambivalenzen und Meinungsverschiedenheiten zwischen Berlin und Jerusalem sollte man doch zumindest auf Augenhöhe und ergebnisoffen diskutieren können. Unter Freund:innen kann man sich auch darauf aufmerksam machen, dass man – auf Grund der gemeinsamen Geschichte – eine gemeinsame Verantwortung bezüglich der Erinnerung hat und keiner diese Erinnerung für „nationalen Egoismus“ missbrauchen sollte, wie die Tagesschau absurderweise festhielt. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass in der gemeinsamen Geschichte der eine Staat genau diejenigen industriell vernichten wollte – und es beinahe geschafft hat – die der andere Staat heute beschützen will. Genauso wird ausgeblendet, dass Israel nur eine einzige Handlungsmöglichkeit gegenüber dem Iran hat, will es dieses Schutzversprechen gegenüber seiner Bevölkerung einhalten. Die Selbstverteidigung mit allen notwendigen Mitteln ist für Israel und seine jüdische Bevölkerung die einzige Möglichkeit zu existieren.
Der Versuch zwischen ehrbarem Antizionismus und bösem Antisemitismus zu unterscheiden blamiert sich dadurch, dass in ihm – meist unbewusst – der Staat gegen das Kapital ausgespielt werden soll. Wie Staat und Kapital sich gegenseitig bedingen, bedingen sich auch die aus ihnen erwachsenden negativen Kritiken einander. Wie Antisemitismus die personifizierte negative Kritik des Kapitals ist, ist der gegen den Juden unter den Staaten gerichtete Antizionismus die negative Staatskritik. Erst in einer befreiten Gesellschaft lässt sich dieser notwendige jüdische Partikularismus mit der geeinten Menschheit versöhnen. In der Welt von Staat und Kapital gibt es nur die Wahl zwischen antisemitischem Massenmord und dem kapitalistisch organisierten jüdischen Staat. Jede antizionistische Israelkritik macht sich also mit dem antisemitischen Mord gemein.
In der Welt von Staat und Kapital scheiterten die jüdischen Hoffnungen auf Emanzipation historisch in doppelter Hinsicht, denn weder gelang ihnen die bürgerliche Emanzipation zu Staatsbürger:innen noch die proletarische zu Sowjetgenoss:innen. Es half ihnen keine soldatische Staatstreue – weder gegenüber dem bürgerlichen noch dem proletarischen Staat – gegen die in Krisenzeiten immer wiederkehrende und neu mobilisierte antisemitische Vereinfachung der Welt. Weder der bürgerlichen Brüderlichkeit noch der proletarischen Solidarität konnten sich Jüdinnen und Juden je sicher sein. Dies bedeutet auch für die materialistische Staatskritik, dass die Solidarität mit Israel als Schutzraum aller Jüdinnen und Juden nicht zur Diskussion steht. Dabei ist es schlicht und ergreifend egal, wie wir als Privatmenschen die aktuelle Regierung oder die dortige außerparlamentarische Opposition bewerten. Es geht nicht darum, dass Israel im Gegensatz zu anderen Staaten irgendwie humaner wäre, sondern darum, dass Israel durch die Inhumanität der anderen Staaten zur einzig möglichen Verteidigung der Jüdinnen und Juden geworden ist.
„Für den Kommunismus“ bedeutet also nicht nur zwangsläufig Krieg den deutschen Zuständen, sondern immer auch Solidarität mit Israel.