DER STAAT BIST DU! CHARAKTERMASKEN ABSCHMINKEN!

Flugblatt, das auf der Demonstration ‚Sarrazin, halt‘s Maul‘ am 10.12.2019 in Bremen verteilt wurde.1

Liebe GenossInnen von der Kampagne NIKA Nordwest und sonstige UnterstützerInnen des heutigen Aufrufs. Anders als die autoritären MarxistInnen es raunen, ist das Kapital kein Kreis von Personen, die in irgendwelchen Räumen über das Vorgehen auf unserer Welt entscheiden. Das Kapital ist viel mehr eine gesellschaftliche Synthesis, die alle ausschließt, weil es die Individuen zu Subjekten und die sinnlichen Dinge zu Waren atomisiert und zugleich alle einschließt, indem alles auf den Wert bezogen und dadurch miteinander austauschbar ( also vergleichbar) wird.

Diese gesellschaftliche Synthesis des Kapitals wird im Tausch hergestellt. In ihm werden Waren auf das soziale Verhältnis des Wertes bezogen. Im Tausch allein kann sich der Wert selbst verwerten und kann als scheinbar „automatisches Subjekt“ prozessieren. Eben weil dieses Prinzip in der Gegenwart eine allgemeine Gültigkeit erlangt, und nicht, weil es eine herrschende Klasse mit Profitgier gibt, lässt sich vom Kapitalismus als System sprechen. Der Garant dieses Tauschverhältnisses ist der Staat, der durch seine Monopolisierung der Gewalt ein Recht setzt, das überhaupt erst den Tausch zwischen Freien und Gleichen ermöglicht. Denn wenn sich etwas genommen werden kann, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, braucht sich dafür kein Geld gegeben werden.

Dass die Waren sich nicht selbst zu Markte tragen können, wie Marx anmerkte, heißt in Anbetracht des Tausches als vergesellschaftendes Prinzip, dass der Mensch allein das Subjekt der Geschichte ist und bleibt. Das heißt, dass das „automatische Subjekt“ seine Existenz allein der Handlung von nicht-automatischen, ergo menschlichen, Subjekten verdankt; dass der Staat nur vermittels Subjekten – seien sie PolizistInnen oder PolitikerInnen – erscheinen kann. Wenn Marx allerdings sagt, dass sich die Geschichte scheinbar hinter dem Rücken der Subjekte vollziehen würde, spricht er damit das notwendig und falsche Bewusstsein der Subjekte an. Diese werden zu Charaktermasken,2 die einem fetischisierten Alltagsglauben anhängen und eine bürgerliche Subjektivität erlangen, womit sie das soziale Verhältnis des Wertes reproduzieren, ohne dabei jedoch als Individuen mit ihrer Funktion gänzlich identisch zu sein.

In der von Staat, Kapital und ihren Fetischen bestimmten, bürgerlichen Gesellschaft kann der konkrete empirische Mensch – sofern er das Glück hat, StaatsbürgerIn zu sein und nicht ohne Papiere im Mittelmeer ertrinken muss – nur in der Subjektform überleben. In dieser ist die Individualität zum Accessoire der Persönlichkeit degradiert. Sein Denken ist in die Warenform gebannt, die „erkenntnistheoretisch von der Philosophie und triebökonomisch von der Psychologie verdoppelt und rationalisiert wird.“3 Das Individuum steht also nicht im Gegensatz zur Gesellschaft, sondern die Gesellschaft hat sich ins Innerste des Individuums eingebrannt. Zum Subjekt wird das Individuum, wenn es in der Lage ist, sich selbst als EigentümerIn der Ware Arbeitskraft zu denken, seine eigenen Triebe soweit zu beherrschen, um zur gesellschaftlichen Produktion beitragen zu können. Kurzum: Subjekt sein, das heißt – nach einem Worte von Joachim Bruhn – „Kapital verwertend und Staatsloyal“4 zu sein.

Das Subjekt ist, wovon es selbst in seinem fetischisierten Bewusstsein nur eine Ahnung (als Existenzangst) entwickeln kann, vollauf prekär. Permanent droht die eigene Wertlosigkeit und damit der Verlust der Subjektivität: „Derart ist das bürgerliche Subjekt verfasst, dass es Identität nicht aus sich selbst erzeugen kann, sondern nur im Prozess einer ständigen Abgrenzung, eines permanenten Zweifrontenkrieges gegen das ‚unwerte‘ und gegen das ‚überwertige‘ Leben. Bürgerliche Subjektivität existiert nur in der vollkommenen Leere der permanenten Vermittlung, die sie zwischen den Waren, im Tausch, und um den Preis der ihr andernfalls drohenden Annihilation zu stiften hat.“5

Die erste Front ist eine Abspaltung und Projektion, der eigenen – sich der Verwertung und Verrechtlichung entziehenden – triebhaften Naturbeschaffenheit, auf ein rassifiziertes „Objekt“, dem man den Subjektstatus verweigern muss, um sich selbst als Subjekt wähnen zu können. Die Ambivalenzen zwischen Romantisierung der edlen Wilden und das Streben nach ihrer totaler Beherrschung folgen der dialektischen Logik. In der zweiten Front werden pathisch die eigenen Sehnsüchte auf die „Gegenrasse als solche“ projiziert. Er ist das mörderische Streben des Bürgertums sich selbst zu rassifizieren, die eigene Subjektivität durch Aneignung des angeblich geheimen Wissens der Juden zu erlangen. Diese Abspaltung findet allerdings zweifach statt: ökonomisch im Antisemitismus und politisch im Antizionismus – das eine bedingt das andere so sehr, wie sich Staat und Kapital gegenseitig bedingen.

Dem Antisemiten erscheint das Kapitalverhältnis als Gegenüberstellung von Produktions- und Zirkulationssphäre, wobei die Produktion als „schaffend“ und die Zirkulation als „raffend“ gedacht werden. Dass die Warenproduktion selbst bereits die Zirkulation – den Kauf der Produktionsmittel, ihre Aufwertung durch die gekaufte Ware Arbeitskraft und ihr Weiterverkauf – in sich enthält, kann das fetischisierte Bewusstsein, dass die Wertsteigerung auf magische Weise im Gegenstand selbst vermutet, nicht begreifen. Die Trennung und die Abspaltung erhält das System, ist es doch so möglich, die Produktivität des Kapitalverhältnisses gegen seine ihm innewohnende Destruktivität auszuspielen. In Krisenzeiten der Verwertung erfüllt das Pogrom die Funktion des ritualisierten Opfers an die Gottheit des automatischen Subjekts – von der triebökonomischen Funktion ganz zu schweigen. Der Antizionist wiederum trennt Recht und Gewalt, welche sich gegenseitig bedingen, während er letzteres dem vermeintlich künstlich gesetzten jüdischen Staat zuschlägt, um den eigenen Staat als natürlich gewachsene Entität des Rechts halluzinieren zu können. Die Funktion ist in gewissem Maße analog zum Antisemitismus. Die Fetischisierung des Rechts verdrängt die Gewalt, deren Existenz jedoch unwiderlegbar ist, die einem anderen Subjekt zugeschoben werden muss.

Bei beiden ist der Neid auf das vermeintlich geheime Wissen der Juden nicht von der Hand zu weisen, ist das ihnen Unterstellte doch das eigene Verlangen: Verwertung und Herrschaft. Antisemitismus und Antizionismus sind die negative Ökonomie- und Staatskritik in den Formen des fetischisierten Bewusstseins. Beide sind somit gerade nicht Ausdruck einer Archaik oder Feudalität – im Falle des Irans Beleg seines irgendwie vormodernen Daseins –, sondern im Gegenteil Ausdruck der bürgerlichen Moderne. Politik kann gegen sie nichts ausrichten, sind sie doch keine Unwissenheit, sondern logische Konsequenz der bürgerlichen Subjektivität, auf der jede Vorstellung von Politik notwendigerweise beruht.

Die deutsche Vergesellschaftung ist dabei von einer besonderen Widerwärtigkeit. Richard Wagners affirmative Emphase, dass es deutsch sei, eine Sache um ihrer selbst Willen zu tun, bekommt ihre historische Wahrheit in der antisemitischen Vernichtung um der Vernichtung Willen. Ihren materialistischen Gehalt erhält sie durch den Verweis auf Adornos Rede, dass ein Deutscher jemand sei, der keine Lüge aussprechen könne, ohne sie selbst zu glauben. In aller Kürze heißt das, dass die Unwahrheiten der bürgerlichen Gesellschaft im Nationalsozialismus auf brutalste Art und Weise beinahe wahr gemacht worden ist, wie die bloß über den Wert vermittelte vermeintliche Egalität der Klassengesellschaft zur Auflösung des Klassenwiderspruchs in der Egalität des Mordkollektivs, wie der Traum von der krisenfreien Ökonomie in der kriegerischen Konsumgemeinschaft. Das Erbe dieser Gemeinschaft lebt fort im postnazistischen Sozialpakt, in der Unterstützung antisemitischer Mörderbanden, dem Aufschwingen zur moralischen Weltmacht und in der stetigen Möglichkeit, sich im Angesicht der Krise erneut auf die altvertraute – beinahe erfolgreiche – Krisenlösung zu besinnen.

Alles was bisher über Subjektivität gesagt wurde, gilt natürlich auch für den deutschen Staat, der nur durch seine StaatsbürgerInnen überhaupt sein kann und der sich eben nicht bloß durch Wirtschaftsbosse und PolitfunktionärInnen ausdrückt, sondern in dem jedeR einzelneR StaatsbürgerIn in eine entsprechende Charaktermaske schlüpft. Das Ausspielen der klassenbewussten Antifa gegen die rassistischen FunktionärInnen von Staat und Kapital verkennt die gerade in Deutschland (gern) praktizierte Verbindung von Mob und Elite. Verkennt, dass der arbeitslose Faschist in Ostdeutschland mit den Sarrazins, Höckes und den Mitgliedern des Wirtschaftsclubs Havanna in Bremen in einem Verhältnis steht; dass sich die Subjektivität der ersten in Abschiebungen und Bevölkerungspolitik äußern kann, während letztere zur Festigung ihrer bürgerlichen Subjektform – und das hat Joachim Bruhn im Fall eines Mörders von Solingen bereits auf dem Konkret Kongress 1993 deutlich dargelegt – einzig und allein der rassistische Mord bleibt.6 Die von buchgläubigen Kommunisten erstrebte Emanzipation der Deutschen zu Menschen, betrifft jeden Staatsbürger auf unterschiedliche Weise, aber doch gleichermaßen.

Dies festzustellen ist nicht gleichbedeutend mit einer Verdrängung der berechtigten Wut auf die Charaktermasken der politischen und ökonomischen Macht oder einer Predigt für den Verzicht auf nonverbalen Kommunikation mit autoritären Dreckssäcken – notfalls auch vermittelt über deren Eigentum. Vielmehr ist dies festzustellen, um die Gemeinsamkeiten der rassistischen Formierung im Bewusstsein zu behalten, ohne dabei die einen zum bloßen Fußvolk der Anderen zu machen. DeutscheR – und das heißt manifesteR AntisemitIn und RassistIn – zu sein, ist eine Entscheidung, für die jedeR im sartre‘schen Sinne zur Verantwortung zu ziehen ist.

Und ebenso sind Linke zur Verantwortung zu ziehen, die sich nicht in allerletzter Radikalität in eine Fundementalopposition zu diesem widerwärtigen Drecksland begeben. Das Gegenteil von gut ist in der Welt von Kapital, Staat und ihren Fetischen leider, leider, leider gut gemeint, liebe Genossinnen und Genossen von NIKA Nordwest.

Please don‘t shoot the messenger,
Solarium – kommunistische Gruppe Bremen.

1Dieses Flugblatt ist die gekürzte (und auf den Aufruf: https://www.nationalismusistkeinealternative.net/bremen-sarrazin-halts-maul-gegen-rassismus-und-klassenkampf-von-oben/ zugespitzte)
Version eines internen Kommuniqués zur Verständigung über Kapital, Staat, ihre Fetische und dieses deutsche Scheiszland, das in den nächsten Wochen in Gänze auf antideutsch.org veröffentlicht wird.
2Bloßen FunktionsträgerInnen des automatischen Subjekts.
3Bruhn, Joachim: Was deutsch ist,S. 162.
4Bruhn, Joachim: Videomitschnitt vom Konkret Kongress 1993.
5Bruhn, Joachim: Was deutsch ist, S. 96.
6Bruhn, Joachim: „Typisch deutsch“ - Christian R. und der linke Antirassismus, in: Was deutsch ist.

2 Kommentare zu „DER STAAT BIST DU! CHARAKTERMASKEN ABSCHMINKEN!“

  1. Stimmt ja alles was ihr schreibt. Ich glaub aber, ihr Unterstellt NIKA so einiges, was sie nicht tun. Ihr Arbeitet euch hier an ein Flugblatt ab, das aus der Intervention in eine bestimmte Situation entstammt und in klassischem NIKA-Sprech verfasst ist. Und ihr Antwortet mit einem guten Proseminar. Seid ihr so sicher, dass eure Punkte nicht von den Verfasser*innen prinzipiell geteilt werden und sie in einem anderen Kontext auch so reden würden? Der Unterschied liegt ja vielmehr darin, dass für euch die einzig mögliche Praxis Kritik ist (passt voll). Dieser Text ist aber Moment einer Intervention (und zwar nicht einer Intervention in einer Debatte): Diese entfaltet sich immer im Ausgang von Akteur*innen und Situationen, die Mitthematisiert werden müssen und hat ihren ersten Schritt darin, gegebene Zustände zu skandalisieren und eine Indifferenz aufzubrechen; Sie setzt nicht Leser*innen voraus, die die eigene Kritik rezipieren; Sie muss sie sich erst schaffen. Das ist die eigentliche Linie der Auseinandersetzung: Ob eine Praxis – zusätzlich zur Kritik – möglich/legitim ist (und damit ob Texte, die nicht eine Fundamentalkritik legitim sind). Darum geht es.

  2. Die Frage von dir ließe sich auch anders stellen:

    Wie viel radikale Kritik erlaubt die Praxis von NIKA (bzw. …ums Ganze)? Eine Praxis, die aus politischer Kompromissbereitschaft die Kritik opfert ist mMn fatal, gerade im Hinblick auf das Scheitern der Linken im 20ten Jahrhundert (nicht zuletzt im Moment als sich die Studierendenbewegung gegen Adorno und für Mao aus Gründen der Praktikabilität entschied).

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